Trans oder Trauma?

Der Artikel fasst 4000 Wörter, deswegen zu Beginn eine Zusammenfassung:

Wenn erwachsene Menschen überlastenden Stress erleben, können sie Alkohol trinken, Sex haben, Sport machen oder Beruhigungsmittel schlucken. Kindern stehen diese Strategien nicht zur Verfügung. Wenn Kinder Gefühle erleben, die sie nicht bewältigen können, spalten sie sich ein
Stück weit von ihnen ab. Da die Gefühle im Körper gespürt werden, vermeiden sie eine Identifikation mit ihm, und lenken ihre Aufmerksamkeit in den Kopf und die Umgebung. Diese Abspaltung von Körper und Gefühlen bleibt bei wiederholten Erlebnissen bis ins Erwachsenenalter.
Wenn jetzt noch Erziehung oder Kultur für Schamgefühle gegenüber der Sexualität sorgen, kann das die Grundsteine für Geschlechts-Identitätskrisen legen. Als heterosexueller Mann hat deswegen die Feminisierung meines Körpers positive Gefühle ausgelöst. Einerseits, weil mein Bewusstsein auf einer Ebene nicht korrekt zwischen meinem eigenen und fremden Körpern unterschieden hat. Andererseits, weil eine neue Identität unbelastet erlebt werden konnte, während viele negative Gefühle mit „dem alten Körper“ verbunden waren. Das Erleben dieser positiven
Gefühle führte dazu, dass ich mir ein Leben im anderen Geschlecht wünschte.

Die Anfänge

Mit 35 Jahren blickte ich auf eine lebenslange Leidensgeschichte geprägt von Sucht, Angststörungen und Depressionen zurück. Ich schaute gerade die Serie „Twin Peaks“, in der David Duchovny als CIA-Agent in Frauenkleidung auftritt. Auf die Frage nach den Gründen antwortet der fiktive Charakter: „It relaxes me.“

Außer Methamphetaminen habe ich in meinem Leben schon alle gängigen Drogen probiert. Ich wurde mit Benzodiazepinen, Antidepressiva und Neuroleptika behandelt. Ich habe es mit Therapie, Meditation, Atemübungen und Sport probiert. Vor einem knappen Jahr hatte ich einen Selbstmordversuch begangen, weil ich von meiner Alkoholabhängigkeit vollkommen ausgehöhlt war. Auf Sozialhilfe angewiesen saß ich allein in meiner Wohnung und hatte nichts, was gegen meine innere Unruhe half. Wenn es also auch nur die geringste Chance gab, dass es mich entspannen würde Frauenkleidung zu tragen, würde ich es ausprobieren. Und noch am selben Tag ging ich in einen Second Hand Store und erzählte der Besitzerin, ich bräuchte ein Kleid für eine Theaterprobe.

Was dann folgte, war ein gutes Jahr, in dem ich mehr und mehr zur Überzeugung kam, „trans“ zu sein. Alle Indizien deuteten darauf hin. Denn tatsächlich entspannte mich die Frauenkleidung nicht nur, sie sorgte für ein ganz neues Lebensgefühl. Ein Lebensgefühl voll Optimismus, Leichtigkeit und Neugier.

Die praktischen Herausforderungen waren enorm. Schminken ist nicht einfach. Frauenkleider sind nicht für Männer gemacht. Und ohne Geld für eine Laserbehandlung entfernte ich meinen Bart mit Heißwachs (eine Erfahrung, die ich nicht empfehlen kann). Trotzdem hatte ich endlich Hoffnung auf ein erfülltes Leben, denn schlussendlich war der Ursprung meines Leidens identifiziert.

Doch wie viele in der Trans-Community hatte ich auch Zweifel. Die positiven Effekte der Wandlung waren nicht von der Hand zu weisen. Doch die Aussicht auf irreversible Eingriffe in den Körper, das Stigma in (manchen Teilen) der Gesellschaft und auch die eigene Vergangenheit machten es schwer, sich sicher zu sein. Ich zum Beispiel hatte mir zu keinem Zeitpunkt meines Lebens gewünscht eine Frau zu sein. Zwar spielte ich in Computerspielen oft weibliche Rollen und fand es als Teenager aufregend mir für das Rennradfahren die Beine zu rasieren. Aber der explizite Wunsch nach Weiblichkeit war nie dagewesen. Das einzige, was passte, war dass ich in einer kurzen Phase meiner Pubertät mein Geschlechtsteil loswerden wollte. Ich war damals mit meiner Sexualität so überfordert, dass ich im Internet nach Methoden recherchierte, wie man sich ohne ärztliche Hilfe den P … nun ja, ich habs ja schon gesagt. Dafür gab es tatsächlich auch vor 20 Jahren schon Internetforen. Aber damals war es der Wunsch ein Eunuch zu sein, oder asexuell zu werden. Mein Sexualtrieb war so stark und meine Schüchternheit noch stärker, dass es mich verrückt machte, dieses Ding zu haben. Ich drängte mich irgendwann mit Alkohol und falschem Stolz zu sexuellen Erfahrungen, deswegen geriet diese Phase meines Lebens in Vergessenheit.

Zurück zu meinem 35-jährigen Ich. Nach etwa einem Jahr in der Trans-Community hörte ich von dem Konzept der Autogynophilie (AGP). Nach Wiki-Quote ist das die „paraphile Neigung eines Mannes, sexuelle Erregung durch die Vorstellung von sich selbst als Frau zu erlangen.“

Über das Thema wird wenig in der LGBQT+ Community gesprochen. Man fürchtet, dass die breite Gesellschaft transidenten Menschen die Existenzberechtigung absprechen könnte. Würde die Auffassung existieren, dass es Transfrauen nicht um eine Identität geht, sondern um einen Fetisch, könnte viel Schaden entstehen. Diese Ansicht kann ich gut verstehen. Dennoch würde das Wissen um dieses Konzept wichtig für mich werden. Es totzuschweigen halte ich für keine Lösung.

Zuerst dachte ich nicht, dass ich etwas mit Autogynophilie (AGP) zu tun habe. Ich fühlte mich nicht erregt in Frauenkleidung. Doch irgendwann bekam ich Zweifel. Ich erinnerte mich daran zurück, dass ich beim Probieren des allerersten Kleides sehr wohl leichte Erregung spürte. Damals erklärte ich es mir mit der Entspannung, die ich erfuhr. Wie viele Männer bestätigen können, ergibt sich Erregung oft in Phasen der Entspannung. Zum Beispiel beim Yoga, einem Mittagsschlaf, oder einer Massage. Doch ich bemerkte auch, dass Erregung stattfand, wenn die Kleidung recht freizügig war – also Sachen, die Frauen nicht im Büro tragen würden. Oder aber, wenn ich eine Weile keine feminine Kleidung getragen hatte. Das hieß, ich war erregt, wenn der Stimulus entweder stark, neu oder nach längerer Abwesenheit wieder zurück war. So unangenehm es mir auch wurde, musste ich schlussfolgern, dass ich wahrscheinlich AGP hatte.

Dass es schwer zu erkennen war, ist im Nachhinein gut zu erklären. Mit 35 Jahren hatte ich über zwei Jahrzehnte lang Pornografie konsumiert. Ich hatte überdurchschnittlich viele Sexpartner und etliche Beziehungen, in denen absolut nichts Tabu war. Das heißt, Erregung durch eine Fantasie oder ein Kleidungsstück ist sehr subtil. Anfang 20-Jährige, die ich aus der Trans-Community kenne, berichten dagegen von äußerst starker Erregung beim bloßen Gedanken an das Tragen femininer Kleidung.

Dass ich AGP hatte, schloss das Trans-Sein für mich aber nicht aus. Es stimmte mich lediglich nachdenklich.

Später entdeckte ich allerdings eine weitere Eigenart. Mir viel auf, dass ich mich in der Öffentlichkeit auch entspannt fühlte, wenn die Kleidung androgyn war. Soll heißen „neutral“ und vielleicht „ein bisschen schwul“. Der Ausdruck ist bescheuert und ich entschuldige mich bei der Gay-Community, aber mir fällt keine bessere Beschreibung ein.

Diese Reaktion fand ich seltsam. Ich dachte, vielleicht habe ich Angst davor maskulin zu sein, weil ich mich vor Auseinandersetzungen mit anderen Männern fürchte. (Heute weiß ich: Männer entscheiden nicht anhand von Maskulinität ob jemand Rivale ist, sondern anhand von Gestik, Mimik und Körperhaltung.)

Meine neue Hypothese war also, dass ich Angst vor Gewalt hatte. Die hat in meiner Vergangenheit durchaus eine Rolle gespielt. Wenn ich also weiblich wirkte, entging ich dieser gefühlten Androhung von Gewalt. Ich kannte schließlich nur Gewalt unter Männern, nicht die Gewalt wie sie auch Frauen angetan wird. Das würde erklären, warum meine Psyche sich zu Frauenkleidung hingezogen fühlt. Dadurch habe ich die Transidentität zum ersten Mal mit Trauma in Verbindung gebracht.

Ich wusste vorher, dass traumatische Erlebnisse meine Psyche beeinflussten. Aber das Bedürfnis eine Frau zu sein? Warum sollte das die Folge eines Traumas sein?

Wenn aber die Handlungen, die mit einer Transidentität einhergehen, die Symptome des Traumas lindern, dann konnte ich mir einen Zusammenhang vorstellen.

Also ging ich weiter auf die Suche. In einem Podcast hörte ich von einem Mann, dessen AGP nach dem Lesen zweier Bücher verschwand.

Einmal „Leadership and Self-Deception“ vom Arbinger Institute und „Male Sexuality – Why Women Don’t Understand it and Men Don’t Either“ von Dr. Michael Bader.

Natürlich las ich sie, und weit weniger natürlich, hatten sie denselben Effekt auf mich. Es dauerte einige Wochen, bis ich die Inhalte verdaut hatte, doch mein Bedürfnis mich weiblich zu kleiden verschwand.

Was ist drin in diesen Büchern? Vorneweg: In Dr. Michael Bader’s Buch geht es nicht um Transidentitäten. Dr. Bader argumentiert stattdessen, dass heterosexuelle Männer gar nicht so abgestumpft und selbstsüchtig sind, wie sie auf Frauen wirken. Zumindest nicht im Bett. Vielmehr ist die Sexualität und das Konzept der Maskulinität für viele Männer so schambehaftet, dass sie in romantischen Beziehungen selbst keine Befriedigung finden.

Der Hintergrund ist die Beziehung zur Mutter. In der Kindheit haben Jungs und Mädchen eine gleichwertig innige Beziehung mit ihrer Mutter. Beide wollen, dass es der Mutter gut geht und ihr keinen Kummer bereiten. Diese Bindung ist stark und wichtig. Doch irgendwann droht die sich entwickelnde Sexualität der Jungen diese Bindung zu gefährden. Emotional gesunde Mütter unterstützen diese Entwicklung. Sie versichern den Jungen, dass die neuen Interessen und Bedürfnisse der Beziehung mit ihr nicht im Weg stehen. Mütter, die aus ihrer eigenen Vergangenheit mit emotionalen Konflikten kämpfen, reagieren auf diese Entwicklung dagegen negativ. Die entstehende Dynamik ist komplex, aber im Resultat werden manche Jungs ihre Maskulinität und Sexualität sprichwörtlich abtöten, um die Beziehung mit ihrer Mutter nicht zu verlieren.

Ein frei übersetztes Zitat aus dem Buch:

Ein Patient, den ich behandelte, befürchtete in seiner Jugend, dass seine Mutter noch depressiver werden würde, als sie schon war, wenn er als zu traditioneller Junge aufwachsen würde. Als er in die Pubertät kam, gab er jeglichen sportlichen Wettkampf auf und wurde extrem schüchtern und zurückgezogen, was Mädchen anging. Ein anderer Patient mit ähnlicher Scham bezüglich seiner Maskulinität entwickelte in seiner Kindheit eine Gefühlsirritation um seinen Penis herum. Er fühlte diese chronischen Symptome ohne jede physische Erklärbarkeit. Er fand nur Erleichterung, wenn er seinen Penis teilweise zurück in den Leistenkanal schob, wo es sich für ihn behaglich und sicher anfühlte. In beiden Fällen entwickelten die Jungen ihre Symptome als Resultat eines pathogenen Schuldgefühls die Mutter mit ihrer phallischen Maskulinität zu verletzen.

Mütter tragen zu diesen Schwierigkeiten oft in mehreren Hinsichten bei. Tatsächlich mag es der Fall sein, dass sie Neid und Groll empfinden, wenn ihre Söhne erwachsen werden. Denn das heißt, die Söhne verlassen den Einflussbereich der Mutter und empfinden neue Lebensfreuden, von denen sich die Mutter ausgeschlossen fühlen kann. (…) Außerdem mag es wirklich so sein, dass viele Mütter nicht glücklich mit ihrer Rolle im Leben sind. Es wäre ganz natürlich, dass ihre Söhne unter diesen Voraussetzungen Schuldgefühle entwickeln, wenn sie währenddessen den Prozess der Trennung, Selbstständigkeit und sich entwickelnden Maskulinität durchlaufen.“

Im Original

“One patient I treated grew up struggling with the fear that by being too much of a traditional boy he would make his mother more depressed than she already was. When he entered puberty he gave up all competitive sports and became extremely shy and withdrawn around girls. Another patient with a similar type of guilt about his masculinity developed a childhood symptom in which he felt a chronic sense of irritation in and around his penis, despite the complete absence of any physical grounds for this sensation. The only way he found relief was by pushing his penis partway back up into his inguinal canal where it then felt snug and secure. In both cases the boys developed symptoms as a result of their pathogenic guilt about hurting their mothers with their phallic masculinity.

Mothers often add to their sons’ difficulties in several ways. They may in reality, envy and resent the fact that their sons are growing up, leaving their spehere of influence and laying claim to priviliges from which some mothers may feel excluded. (…) Moreover, many of these mothers may, in reality, be unhappy with their lot in life, creating the conditions under which their sons might naturally feel guilty about the process of becoming separate, independent, and masculine.”

Schon nach wenigen Seiten dieses Buches ging mir ein Licht auf. Da meine Mutter noch lebt, werde ich über meine Beziehung mit ihr nicht schreiben. Doch die Inhalte des Buches waren höchst relevant für mein Verständnis von mir selbst.

Hier möchte ich außerdem klar sagen: „Mütter“ haben keine Schuld an der Misere. Zwei Dinge können gleichzeitig wahr sein.

1) Jedes Kind, das unter seinen Eltern gelitten hat, hat ein Recht darauf seine Gefühle frei zu äußern. Das kann Schuldzuweisungen beinhalten. Schuldzuweisungen können auch therapeutisch wirken, wenn sie lange unterdrückt wurden. Genauso mag es unentschuldbare Dinge geben.

2) „Eltern“ als kollektiv haben keine Schuld an dem Leid ihrer Kinder. Jeder Mensch und jede Generation versucht das bestmögliche Leben für sich zu gestalten. Wo Anderen weh getan wird, wird sich immer selbst weh getan. Und wo Anderen weh getan wird, wurde einem immer zuerst selbst weh getan.

Zurück zur Geschichte: Als ich verstanden hatte, dass ich vermutlich durch eine Familiendynamik meine Maskulinität geopfert habe, entstand eine Trotzreaktion. Jetzt wollte ich keine Frau mehr werden, sondern meine Männlichkeit zurück. Das ging natürlich nicht mit Willenskraft. Mit Willenskraft hatte ich mein ganzes Leben versucht ein „normaler Mann“ zu sein. Diesmal musste eine echte Veränderung her. Und da kam auch schon das zweite Buch ins Spiel, „Leadership and Self-Deception“.

Das Buch ist ein fiktiver Dialog zwischen Führungskräften. Es geht darum, wie man die eigenen „Leadership Skills“ verbessert. Die Antwort ist der Kern des Buches und lautet, durch mehr Empathie. Gute Chefs betrachten die Welt stets durch die Augen ihrer Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter. Wenn Kritik geäußert wird, dann immer so, wie sie anderen Menschen hilft. Nicht, wie man sie selbst loswerden möchte. „Getting out of the box“ ist der Ausdruck dafür. Also aus sich selbst herauskommen und sich in Andere hineinzuversetzen.

Das Buch war wirkungsvoll für mich, weil es kein Hippie-Zeug ist. Es fühlt sich eher an wie ein Geheimtipp. Ich glaube, nur dieses Framing hat mich letztlich dazu gebracht, gewohnheitsmäßig die Perspektiven meiner Mitmenschen einzunehmen – eine tatsächlich ungewohnte Übung bis dahin.

Und hier kommt die Erklärung, warum mir das bei der Entwicklung meiner Maskulinität geholfen hat. Dafür müssen wir einen Abstecher in die Entwicklungspsychologie machen. Das wird ein mittellanger Umweg, ich bitte um Geduld.

Wenn Kinder mit distanzierten, unberechenbaren, übermäßig kritischen oder emotional unreifen Eltern aufwachsen, entwickeln sie keine gesunde Bindungsfähigkeit. In solchen Familien herrscht einerseits häufige, intensive Emotionalität, mit der Kinder nicht umgehen können (Streit, Drohungen, Bestrafungen). Andererseits findet keine gefühlvolle Anteilnahme an den Erlebnissen der Kinder statt, wo sie nötig wäre (Abwesenheit, Desinteresse, Zeitmangel). Was Kinder dadurch unbewusst lernen, ist dass sie sich zur Befriedigung eigener Bedürfnisse nicht auf das Mitgefühl Anderer verlassen dürfen. Wenn diese Erlebnisse langjährig und wiederholt stattfinden, stockt die Entwicklung wichtiger neuronaler Netze rund um den Aspekt der Empathie.

Einen wichtigen Beitrag zu dem Verständnis für dieses Thema bieten unter anderem diese Bücher:

  • Alice Miller – Das Drama des begabten Kindes
  • Elan Golomb – Trapped in the Mirror
  • Alexander Lowen – Narzissmus, die Verleugnung des wahren Selbst
  • Pete Walker – Posttraumatische Belastungsstörung

Damit dieser Artikel in sich schlüssig ist, fasse ich ein paar relevante Punkte zusammen:

Wir Menschen sind zur vollständigen und gesunden emotionalen Regulation auf andere Menschen angewiesen. Hat jemand Angst, wird er oder sie von mir in den Arm genommen. Ist jemand traurig, gebe ich eine Schulter zum Ausweinen. Verspürt jemand Wut, darf in ein Kopfkissen geschlagen werden, und ich bezeuge die Ungerechtigkeit, die erlebt wurde. Dieser universell menschliche Gefühlsausdruck hat einen beruhigenden Effekt auf den Körper, wenn er unbelastet erlebt werden darf. Die wenigsten von uns wachsen aber mit einem unbeschwerten Verhältnis zu unseren Gefühlen auf. Kulturelle Werte und elterliche Autorität pflanzt in uns das ein, was Psychoanalytiker eine „Introjektion“ nennen. Das ist die innere Stimme, die uns sagt, dass unser Verhalten nicht in Ordnung ist.

„Weinen tun nur Mädchen.“
„Wütend sein ist schlecht.“
„Angst brauchst du doch gar nicht haben.“

Wenn Eltern aufgrund der eigenen Kindheit keinen gesunden Zugang zu ihren Gefühlen haben, können sie auch ihren Kindern keinen beibringen. Erwachsene haben allerdings Strategien, mit ihren unbewältigten Gefühlen umzugehen. Sie können Alkohol trinken, Sport machen, Sex haben, Drogen nehmen oder sich in die Arbeit stürzen. Kinder dagegen können nichts davon tun. Kinder sind gefangen in ihrem kleinen Körper, mit ihrem unterentwickelten Gehirn, und den überwältigenden Gefühlen, die sie nicht ausdrücken können. Um Körper und Psyche vor einem Zusammenbruch zu schützen, geschieht nun eine Abspaltung. Die Kinder schalten sich in Teilen sprichwörtlich ab. Durch Tagträumerei, Lesen oder Computerspielen in exzessivem Maße zum Beispiel. Was Eltern als Faulheit oder mangelnden Antrieb interpretieren, ist eine Strategie, um Körpergefühlen zu entfliehen. Eine Dissoziation. Ähnlich können Hyperaktivität oder Aufmerksamkeitsstörungen das Resultat sein. Das sind die beobachtbaren Symptome eines Gehirns, das verzweifelt versucht, sich mit Reizen von innerem Schmerz abzulenken. Die Hyperaktivität ist zusätzlich der Versuch angestaute Energien loszuwerden, die das überreizte Nervensystem im ständigen Kampf-oder-Flucht-Modus mobilisiert. Auf Körperebene können Kinder versuchen den Atem anzuhalten und die Muskulatur anzuspannen, um einen Tränen- oder Wutausbruch zu verhindern. Diese Verspannungen werden irgendwann chronisch und setzen die Empfindlichkeit des Körpers herab. Zentral ist in allen Aspekten der Versuch, nicht zu fühlen.

Soweit das Negative. Nun zu den positiven Gefühlen, die in konfliktreichen Familien oft mangelhaft sind. Wenn gute Gefühle durch eine wohlwollende Einstellung von Bezugspersonen nicht erreichbar sind, stützt sich das Kind auf die verlässlichere Quellen, wie zum Beispiel Essen.

Diese gelernten Strategien bleiben dem Menschen dann oft bis ins Erwachsenenalter. Aus Essen wird vielleicht Alkohol, Extremsport oder ein Machtstreben, aber ein tragischer roter Faden zieht sich immer durchs Leben: Gefühle wollen durch etwas bewältigt, beseitigt, oder positiv ausgelöst werden, das nicht von dem Wohlwollen Anderer abhängt. Substanzen, Prozesse und Dominanz zum Beispiel fühlen sich sicher an. Allen ist gemein, dass sie keine Verletzlichkeit entstehen lassen.

Wenn ein Kind nun gelernt hat, dass Empathie zur Erfüllung der eigener Bedürfnisse nicht geeignet ist, wird es auch nicht lernen, sich in andere Menschen hineinzuversetzen. Es klingt womöglich befremdlich, aber allein das Ausbleiben einer empathischen Reaktion auf menschliche Bedürfnisse schädigt die Entwicklung der Psyche. „Der Realitätssinn des Kindes wird verwirrt“, schreibt Alexander Lowen in diesem Zusammenhang. Denn das Kind erwartet Hilfe – es ist anders nicht überlebensfähig.

Erinnern Sie sich an dieser Stelle daran, was das Buch „Leadership & Self-Deception“ in mir ausgelöst hat: Es hat mich dazu gebracht, gewohnheitsmäßig die Perspektive anderer Menschen einzunehmen. Ich glaube, damit hat das Buch die Heilung einer Entwicklungsstörung angestoßen.

Nachdem ich den Inhalt verdaut hatte, ging ich täglich durch die Straßen und fragte mich: „Was sieht, denkt und fühlt dieser Mensch wohl gerade?“ Es wurde zur Gewohnheit und ich begann Menschen in einem anderem Licht zu sehen. Die grummelige Frau an der Supermarktkasse war nun kein Hindernis mehr auf meinem Weg zum Abendbrot. Stattdessen stellte ich mir vor, dass sie wahrscheinlich schon drei Kinder großgezogen hatte und jetzt am Samstagabend für den Mindestlohn arbeiten muss. Dabei entstehen ganz andere Gefühle als bei der Vorstellung, dass ihre Laune ein persönlicher Angriff auf mich ist.

Wenn ich selbst lese, was ich schreibe, ist es mir sehr unangenehm. Es outet mich natürlich für das, was ich war. Zynisch könnte man sagen, dass ich Mitte dreißig auf die Idee gekommen bin, nicht allein auf der Welt zu sein. Aber ich habe nie eine Entscheidung getroffen zu sein, wie ich war.

Zurück zur Geschichte: Einige Wochen später stand eine attraktive Frau vor mir. Ich fragte mich: „Wenn ich diese Frau wäre, was fände ich dann attraktiv?“

In meinen AGP-Fantasien war ich bis vor wenigen Wochen schließlich selbst die Frau gewesen, und wusste genau, was ich da attraktiv fand. Und so begann mein Gehirn zu rattern: „Könnte es sein … könnte es sein … dass wenn ich jetzt diese Frau wäre … und diesen Typen – mich – da stehen sehen würde … könnte es sein, … dass ich ihn attraktiv finden würde? Einen Mann … mit Penis … und Beinbehaarung? Mich?

So komisch es sein mag, das war es, was es gebraucht hat. Das Erlebnis, zu fühlen, dass ich als Mann attraktiv sein könnte. Und schon war jeglicher Wunsch nach Weiblichkeit oder Frauenkleidung vergangen. Der entscheidende Unterschied war das Gefühl. Ein Gefühl, dass sich nur durch empathische Verbindung bilden konnte. Das allein konnte die Scham bekämpfen, die ich seit meiner Kindheit im Inneren fühlte. Komplimente von außen, oder ein Blick in den Spiegel konnten nie ein Gefühl vermitteln. Jeder Input von außen wurde durch Scham und Schuldgefühl gefiltert.

Vielen sind Beispiele von magersüchtigen Frauen bekannt. So unglaublich es erscheinen mag, können diese Frauen im Spiegel nicht sehen, wie dünn sie sind. Auch Worte bleiben wirkungslos. So war es auch mit meiner unbewussten Einstellung zur Männlichkeit.

Nun hatte ich endlich eine Basis für ein gesundes Selbstwertgefühl. Ich mag konkrete Stellen meines Körpers als nicht besonders sexy bewerten. Aber ich habe ein Gefühl dafür, dass es irgendwo eine Frau geben wird, die mich anziehend findet. So wie auch ich Frauen anziehend finde, die nicht aus dem Cover eines Lifestyle-Magazins geschnitten sind.

Es gibt noch einen letzten Punkt, der für meinen Heilungsprozess wichtig war. Auch im oben erwähnten Podcast spielt er eine Rolle: nämlich Selbstliebe und Selbstakzeptanz. Das ist diesmal wirklich Hippie-Zeug und am Anfang schwer, aber es ist so wichtig wie gute Ernährung und ausreichen Wasser.

Eigenartig in meiner AGP-Situation war, dass mir Selbstliebe am Anfang nur in weiblicher Rolle möglich war. Ich konnte mich wunderbar akzeptieren und vor allem auch Trauer ausdrücken, solange ich mich als feminin betrachtete. (Diese Fähigkeit Tränen fließen zu lassen ist essenziell für mich, weil sie Anspannung abbaut.) Das führte dann zu Momenten, in denen ich dachte: „Ich fühle mich jetzt so gut, ich gehe heute in meiner alten Rolle als Mann aus dem Haus. Das erspart mir die Blicke und ist unkompliziert.“ Dann lebte ich diese Rolle für ein paar Wochen, doch merkte, dass meine Stimmung kontinuierlich schlechter wurde. Die Anspannung in mir stieg wieder, und ich konnte nicht trauern. Genauso trieben mich meine Gedanken wieder zu Leistung und unrealistischen Projekten an. Unbewusst fühlte ich mich gezwungen etwas zu erreichen, das mir einen Selbstwert verschaffen würde. Ich durchschaute es nicht, aber mir war keine Selbstakzeptanz als Mann möglich.

Erst nach langer Zeit konnte ich gleichzeitig eine Identität als Mann, die Kapazität zu trauern, und Selbstakzeptanz unter einen Hut bringen. Den Büchern ist es zu danken. Im Nachhinein weiß ich, dass die weibliche Rolle mir zusätzlich eine Abschottung vom „inneren Kritiker“ ermöglicht hat. Der innere Kritiker ist ein Konzept, das viele Psychologen verwenden. Der Kritiker besteht aus unseren gesammelten Introjektionen. Er ist die Stimme, die täglich mit uns redet. Sie macht uns Vorwürfe, wenn wir zu spät kommen, oder ein dummes Kommentar von uns geben. Der innere Kritiker ist in mir aber auch nonverbal aktiv. Manchmal implodiert eine gute Laune innerhalb von Sekunden, manchmal ist es wie tausend Nadelstiche. In meiner femininen Rolle war dieser Kritiker kaum aktiv. Das erhöhte das Lebensgefühl „als Frau“ und setzte mein Lebensgefühl als Mann herab. Dadurch kam immer wieder die Vorstellung auf, „trans“ zu sein (= sich nur als Frau wohl zu fühlen).

Auch andere unbewusste Vorstellungen haben meinen Wunsch nach körperlicher Veränderung (hin zur Weiblichkeit) vorangetrieben. Ich bemerkte zum Beispiel, dass das Entfernen des Bartes beim ersten Mal große Euphorie auslöste. Beim zweiten Mal dagegen war ich weit weniger begeistert, obwohl das Resultat gleich gut war. Da war das am Werk, was Pete Walker eine „Erlösungsphantasie“ nennen würde. Das ist die Vorstellung, dass das Erreichen eines Ziels alle Probleme löst. Wenn ich glaubte, dass das Frau-Sein mir einen unbeschwerten Gefühlszustand ermöglichen würde, wäre es verständlich, dass alle Schritte auf diesem Weg mit positiven Emotionen einhergehen. So funktioniert unser Belohnungssystem. Doch wenn die Grundstruktur meine Psyche unverändert bliebe, wäre es nur eine Frage der Zeit, bis sich der innere Kritiker auch in der neuen Welt breit macht. Letztlich ist der Kritiker ein legitimer Teil der Psyche, der unser Verhalten reguliert. Er soll uns vor Ausgrenzung schützen. Nur wenn er außer Kontrolle gerät, richtet er Schaden an. Die Lösung musste also sein, sich mit dem inneren Kritiker als Mann auseinanderzusetzen, nicht die Rolle als Mann abzulegen.

Und so kam ich zu meinem heutigen, recht zufriedenen Ich. Das Wissen um all diese verschiedenen Teile der menschlichen Psyche – von AGP bis innerer Kritiker – waren essenziell dafür.

Vor allem AGP nicht als Fetisch oder sexuelle Orientierung zu verstehen, war wichtig. Ich sehe darin die Reaktion des autonomen Nervensystems auf die scheinbare Anwesenheit eines weiblichen Körpers. Durch die in der Kindheit geschehene Abspaltung, unterschied meine Psyche nicht korrekt zwischen meinem eigenen, und einem fremden Körper. Aus dem Kontext gerissen klingt das nach Schizophrenie. Es ist aber subtiler und ich finde den Vergleich mit anderen Wahrnehmungsstörungen hilfreich. Magersüchtige sehen sehr wohl ihre Rippen Spiegel. Bodybuilder, die sich „zu schmal“ fühlen, sehen auch ihre Muskeln im Spiegel. Doch die Psyche ordnet diesen visuellen Signale nicht richtig ein.

So wusste ich natürlich auch, dass es mein Körper war, der verweiblicht wurde. Doch beim Blick auf mich selbst wurde diese Einordnung übersprungen. Das Nervensystem reagierte auf die visuellen Signale mit Erregung, weil es nicht fragte, was es da sieht. Bei einer Abspaltung schwebt der Geist praktisch körperlos durch die Welt. Das ist selbstverständlich eine physische Unmöglichkeit. Doch der Volksmund beobachtet das bei Menschen, wenn er sagt, jemand hat „seinen Kopf in den Wolken“. Genau zu dieser Gattung Mensch gehörte ich mein Leben lang. Doch als ich lernte, meine Wahrnehmung zurück auf den Körper zu lenken, ging auch meine Verkopftheit zurück.

Also: Um den Prozess, der bei mir stattgefunden hat, noch einmal in wenigen Worten zusammenzufassen:

Trauma → Realitätsverzerrung
Realitätsverzerrung → AGP
AGP → Euphorie
Euphorie → Erlösungsfantasie
Erlösungsfantasie → Transidentität

Ich greife damit NICHT die Legitimität von Transfrauen an. Es ist eine einhundertprozentige persönliche Erfahrung. Ich ziehe daraus keine Rückschlüsse auf andere Menschen. Ich maße mir nicht an, darüber zu spekulieren, was in anderen Menschen vorgeht. Jeder Mensch ist frei, über den eigenen Körper zu entscheiden und die eigene Persönlichkeit zu entfalten.

WordPress Cookie Notice by Real Cookie Banner