Warum gute Marketer schlechte Mentoren sind

Es kursiert gerade ein Trend. Ein Trend, der empfiehlt, dass wir uns verletzlich zu zeigen – auch im beruflichen Kontext. In einer perfekten Welt ist das sicherlich eine gute Idee. Ich weiß aber nicht, ob die mitteleuropäische Kultur und ich schon bereit dafür sind. Die nächsten Zeilen sollen also nicht als Versuch verstanden werden, da mitzumachen. Es geht vielmehr um eine nüchterne Beschreibung der Tatsachen, damit der Rest der Geschichte einen Sinn ergibt.

I love it. But the interwebs isn’t the place. Trust me.

Im ersten Teil geht es nämlich um Sucht und Depressionen. Beide waren lange Zeit Teil meines Lebens. Das macht mich aber erstens nicht verletzlich, weil es vorbei ist. Zweitens, weil das jeder hat. Und drittens, weil der erste Teil der Geschichte hier endet.

Interessant ist aber, warum es mir besser geht: Denn seitdem ich denken kann, lese ich mich schon durch die Selbsthilfe-Abteilung im Hugendubel. Nur hat mir keines dieser Bücher jemals geholfen. Bis ich vor vier Jahren eine ganze Reihe von Autoren entdeckte, die endlich Lösungen boten. Aber die fand ich nicht im Hugendubel, sondern durch eigene Recherche. Alle waren relativ unbekannt, oder vor vierzig Jahren mal populär.

Zeitgleich mit diesem Heilungsprozess begann auch mein Interesse für Marketing. Und jetzt weiß ich, warum Bücher, die helfen, nicht in der Selbsthilfe-Abteilung stehen.

Nicht nur hat mir die Selbstveröffentlichung einiger Kurzgeschichten gezeigt, wie umkämpft der Markt ist. Irgendetwas bekannt zu machen ist viel, viel schwerer als ich es jemals für möglich gehalten hätte. Egal, ob auf YouTube, Blog oder Social Media. Wenn der Content nicht hochklassig ist, reicht es höchstens für eine Handvoll Blicke. Es gibt einfach zu viele Menschen, die hauptberuflich um Klicks kämpfen.

Intro eines typischen MrBeast Videos Anno 2024.

Das soll nicht nach Beschwerde riechen. Es ist wichtig für den nächsten Gedanken. Denn als ich so über das Leben dieser (hilfreichen) Selbsthilfe-Autoren sinnierte, dämmerte es mir: Diese Menschen können überhaupt nicht berühmt werden. Aus ihren eigenen Büchern weiß ich schließlich, wie sie ihren Tag verbringen. Erst mit psychotherapeutischer Praxis, dann mit der Familie. Die haben weder Zeit noch Lust, sich mit Marketing zu beschäftigen. Die haben das, was wir alle suchen: innere Ruhe. Und deswegen rennen sie nicht von Tür zu Tür und machen eine Show daraus.

Wer sehr wohl eine Show daraus macht, sind selbsternannte Gurus und Pop-Psychologen. Immer ein Hörbuch am Start, immer in der Promo-Phase, ständig in Talkshows, auf Insta, auf TikTok – und nie verlegen, ein exklusives Coaching zu bewerben. Da ist mir auch klar geworden, warum diese Typen überhaupt nicht helfen können. Ihre Tipps helfen nicht, weil es nicht ihre Tipps sind, weswegen sie selbst glücklich sind. Diese Menschen sind glücklich, weil sie groteske Mengen Geld und Aufmerksamkeit genießen. Nicht, weil sie das machen, was sie predigen.

Hi, ich bin Alan Watts. Ich habe „Die Kosmologie der Freude“ und 24(!) weitere Bücher geschrieben. Außerdem bin ich Kettenraucher und werde mit 58 Jahren an meinem Alkoholismus sterben, weil ich zur Abwehr meiner Gefühle das Leben intellektualisiere.

Da sind Diplompsychologen, Volksphilosophen und Geistheiler gleichermaßen schuldig. Die meisten würden ohne Geld und Aufmerksamkeit zurück in die Depression stürzen, wegen der sie das Schreiben und Studieren überhaupt angefangen haben.

Das ist ein bisschen scharf geschossen. Zugegeben. Aber bestimmt nicht komplett daneben. Ich habe selbst drei Semester Psychologie studiert und weiß, wer sich dafür einschreibt. Das ist ein Pyramidensystem: „Werde glücklich, indem du anderen erzählst, wie man glücklich wird.“

Auch wieder zynisch. Ich hör jetzt auf. Versprochen.

Aber die moderne Welt hat sich wahrscheinlich ein bisschen verstrickt. Die Lösung vieler Probleme kann heutzutage gar nicht populär werden. Die Aufmerksamkeitsbuhlerei in der Medienlandschaft ist so groß, dass es einen krankhaften Antrieb bräuchte, um dort durchzubrechen. Und ein ungesunder Antrieb kann natürlich keine gesunden Lösungen bieten.

Im Marketing beobachte ich ein ähnliches Phänomen.

Marketing ist so komplex wie die menschliche Psyche. Es gibt nicht das eine Buch. Oder die eine Methode. Was es sehr wohl gibt, ist die jahrzehntelange Anstrengung vieler kluger Köpfe, das Problem wissenschaftlich aufzuarbeiten. Und wer will, kann mit diesem Wissen Erfolg haben. Man muss nur viel Zeit, Arbeit und Leidenschaft mitbringen. Leider lässt sich diese Erkenntnis aber schlecht vermarkten. Marketer wissen, was wir wollen. Am besten ist es neu, schnell, einfach und günstig (besser noch: umsonst).

Schauen wir uns den folgenden Eisberg an. Wer sich für Marketing interessiert, wird vielleicht diese Namen entdecken:

Wahrscheinlich werden sie in der Reihenfolge „von oben nach unten“ entdeckt. Sucht man auf YouTube nach „Social Media Marketing“, ist Gary Vee bei den ersten Resultaten gleich mehrmals vertreten. Von dort aus führen Links zu Alex Hormozi, Rory Sutherland und einem Dutzend anderer Marketer.

Aber: Man könnte auf der Plattform ein ganzes Jahr lang herumklicken, ohne auch nur einmal auf Dr. Karen Nelson-Field zu stoßen. Dabei forscht diese Frau seit siebzehn Jahren im Bereich Marketing. Zwei wissenschaftlich fundierte Bücher über Social Media Marketing hat sie geschrieben. Ihr populärstes Video hat fünfundzwanzigtausend Aufrufe. Das meistgeklickte Video von Gary Vee hat sechs Millionen.

Warum? Weil der „Promotion“-Teil des Marketings ein aktiver Prozess ist. Der braucht enorme Mengen Zeit und Energie. Und je attraktiver das Produkt, desto größer der Hebeleffekt. Gary Vee verkauft Social Media Marketing als Ticket zu Ruhm und Reichtum. Dr. Karen Nelson-Field verkauft 500 Seiten Fachjargon. Gary Vee postet drei Mal täglich auf sieben verschiedenen Plattformen. Dr. Karen Nelson-Field alle halbe Jahr auf YouTube.

Gary (Vaynerchuck) Vee – als Kind in einen Topf voll Charisma gefallen.

Schaue ich jedoch auf den Eisberg, fällt mir auf: Je weiter ich runtergehe, desto wertvoller sind die Informationen. Nur im untersten Teil betreibt man neben beratenden Tätigkeiten auch aktive, wissenschaftliche Forschung. Im Teil darüber verweist man immerhin noch darauf.

Das ist das Wissen, das mich in jeder Situation weiterbringt. Weil es sauber erarbeitet wurde und nicht aus persönlicher Erfahrung stammt. Persönliche Erfahrung ist super. Es mischen aber bei jeder Entscheidung unzählige Variablen mit.

Fennis und Stroebe schreiben in „The Psychology of Advertising“:

Unsere Weise über Werbung zu schreiben, weicht von der traditionellen Methode radikal ab. Wir verwenden keine Fallstudien. (…) Fallstudien sind Einmal-Studien. Gemäß wissenschaftlicher Standards können wir daraus keine sicheren Rückschlüsse ziehen. Wir glauben, dass ein gründliches Verständnis der theoretischen Prinzipien nötig ist. Genauso müssen wir lernen, die wissenschaftlichen Beweise aus unseren Testversuchen zu verstehen. Dann können Leserinnen und Leser das Wissen für ihr eigenes Leben anwenden – viel besser als es mit Fallstudien möglich wäre.“ (S. 24., frei übersetzt)

Wenn diese Argumentation Sinn macht, und wir ein letztes Mal auf den Eisberg schauen, müssen wir schlussfolgern: Je populärer die Marketer, desto weniger nützliches Marketingwissen vermitteln sie.

Als Gary Vee auf einer Konferenz gefragt wurde, welches Content-Format er empfiehlt, antwortete er: „Ich habe großen Erfolg damit, mir einfach die Handykamera ins Gesicht zu halten und zu quatschen.“

Es ist richtig, dass der Mann großen Erfolg damit hat. Er vergisst aber völlig, dass er ein Superstar ist. Zusätzlich bringt er zwanzig Jahre Erfahrung als Entertainer mit. Für einen Malermeister aus Bitterfeld-Wolfen funktioniert das ungleich schlechter. Studien belegen zum Beispiel, dass die Auflösung der Kamera die Attitüden der Zuschauer beeinflusst. Je hochauflösender das Video, desto intelligenter wird die Person vor der Kamera empfunden. Wer noch kein bekannter Großunternehmer ist, greift also besser zur Spiegelreflex und sorgt für gute Belichtung.

Belastbares Wissen kann allen Situationen angepasst werden. Persönliche Erfahrungen dagegen können irreführen.

Im Marketing gibt es also ein ähnliches Phänomen, wie bei der Selbsthilfe-Literatur. Diejenigen, die wirklich forschen, stecken all ihre Energie in die Arbeit. Weil das ihren Charakter ausmacht, sind sie keine Marketer. Sie bekommen aber ohnehin genug Geld und Aufmerksamkeit von Leuten, die gezielt nach ihrer Arbeit suchen. Deswegen haben sie wenig Antrieb, über diese Grenzen hinaus bekannt zu werden. Das Resultat im Marketing? Die oberen Plätze auf YouTube gehören nur Menschen, die sich effektiv selbst vermarkten. Fundiertes Marketingwissen dagegen schlägt der Algorithmus kaum vor.

Falls es übrigens vorhin so klang, als würde ich über Gary Vee herziehen, will ich mich verteidigen. Anders als über Pop-Psychologen möchte ich über Marketer gar nicht lästern. Ich habe von jedem einzelnen Namen im Eisberg viel gelernt. Die Social Media Gurus sind offensichtlich großartig in dem, was sie tun. Die Popularität des Contents darf aber kein Argument für ihre Methoden sein.

Die Popularität des Contents hängt vom Erfolgswillen der Marketer ab. Nicht von der Qualität des Contents. „Erfolgreiche Selbstvermarktung“ und „erfolgreiche Wissensübermittlung im Bereich Marketing“ sind zwei vollkommen unterschiedliche Dinge.
Dass wir populäre Inhalte überbewerten, liegt daran, dass dabei gleich drei kognitive Verzerrungen wirken.

Social Proof: Wenn andere Menschen es tun oder mögen, halten wir es instinktiv für sinnvoll.

Verfügbarkeitsheuristik: Wenn wir uns leicht daran erinnern, halten wir es für überdurchschnittlich wichtig.

Mere-Exposure-Effekt: Der wiederholte Kontakt mit etwas führt automatisch zu positiveren Bewertungen.

Diese Effekte müssen uns stets bewusst sein, wenn wir auf Wissenssuche gehen. Egal, ob wir Selbsthilfe-Literatur, Marketing-Know-How oder Beauty-Tipps suchen. Denn diese Verzerrungen sind keine subtilen Tendenzen. Vielmehr können sie dafür sorgen, dass sich eine gesamte Kultur sinnlos um die eigene Achse dreht.

Zum Schluss bleibt nur zu sagen: Was bekannt ist, ist nicht immer nützlich. Wenn wir den Wert einer Information beurteilen wollen, müssen wir den Rahmen ignorieren, in dem sie präsentiert wird. Wir Marketer nutzen kognitive Verzerrungen in unserer Arbeit. Doch wir vergessen gelegentlich, dass sie auch auf uns wirken. Und vielleicht wirken sie dann sogar noch besser. Weil gerade wir Marketer glauben, weniger empfänglich dafür zu sein.


Quellen der visuellen Elemente:

Vunerability: https://www.linkedin.com/pulse/showing-up-whole-power-vulnerability-world-facades-monica-brown-pow5f

MrBeast Video: https://www.youtube.com/watch?v=fuhE6PYnRMc&t=19s&pp=ygUObXIgYmVhc3QgdHJhaW4%3D

Alan Watts: https://de.wikipedia.org/wiki/Alan_Watts

Gary Vee: https://de.wikipedia.org/wiki/Gary_Vaynerchuk#Medien

WordPress Cookie Notice by Real Cookie Banner