Das Rätsel um den kleinen Baum


Grell war das Licht, als der kleine Baum das erste Mal nach
oben blickte. Blau war das meiste, was er sah, mit einem
kleinen gelben Punkt in der Mitte. Wenig später war alles
schwarz und dann wiederholte sich das Ganze.
Viele Male ging das so, bis er begann, nach links und rechts
sehen zu können. Hunderte kleine Bäume waren dort – so
nannten sie die Menschen, die immer, wenn es hell war, ein
und aus gingen und seltsame Dinge beredeten. Irgendwann
fingen auch die Bäume an zu sprechen:

»Ich fühle mich so steif«, sagte der eine.
»Du bist eine Eiche. Was erwartest du?«, antwortete ein
anderer.
»Woher weißt du das?«, fragte die Eiche.
»Steht auf deinem Schild.«
»Und Eichen müssen steif sein?«
»Ja. Da hinten steht eine ganz große. Die ist massiv und
kräftig. Sie bewegt sich keinen Zentimeter im Wind«,
erklärte der andere.
»Und was bist du?«
»Ich bin eine Kastanie.«
»Woher weißt du das?«
»Kastanien fühlen so was.«
In diesem Moment kamen zwei Männer vorbei, musterten
die Kastanie und nickten. Ein dritter Mann kam hinzu, hob
sie mit Hilfe der anderen auf eine Schubkarre und
verschwand.

Stille kehrte ein und es wurde dunkel. Am nächsten Tag kam
wieder der Mann mit der Schubkarre vorbei und ordnete die
Bäume rundherum neu an. Ein ganz anderer Baum stand
nun auf dem Platz, auf dem gestern noch die Kastanie
gewesen war.

So recht traute sich der kleine Baum zuerst nicht zu fragen,
aber die Neugier nahm schließlich überhand.

»Weißt du, was du bist?«, fragte er den neuen Nachbarn.
»Natürlich. Ich bin eine Buche«, kam die Antwort.

Eine hohe Stimme erklang von links: »Sagt mal, gibt es
wirklich keine anderen Themen für euch? Immer dieses ‚Wer
bin ich?‘ und ‚Was mach ich hier?‘ Sobald hier jemand den
Mund aufmacht, höre ich nur: ‚Mimimi‘! Ich will über das
Wetter reden. Und angenehme, feuchte Erde. Die schönen
Dinge im Leben!«

Der kleine Baum sah hinüber und erblickte einen großen,
schlanken, seltsamen Baum mit langen grünen Blättern, die
aber ganz anders aussahen als die der meisten anderen. Er
sah an ihm herab.

»Genau. Eine Palme. Steht da. Fühlt man. Sieht man«, sagte
die Palme. »Und wenn mich hier nicht bald jemand rausholt,
wachse ich so hoch, dass ich euch das Licht wegnehme. Ich
bin, wie ich bin. Ich entschuldige mich für nichts.«

»Wohin kommen die Bäume, die von hier geholt werden?«,
fragte der kleine Baum.

»Hauptsache weg von euch«, antwortete die Palme.
»Irgendwohin, wo es schön ist. Mit Sonne und gut
gekleideten Menschen.«

»Was steht bei mir?«, fragte der kleine Baum.
»Nichts steht bei dir«, antwortete die Palme.

»Was steht bei mir? Was steht bei mir?«, fragte jemand
aufgeregt aus der zweiten Reihe.
»Apfelbaum«, antwortete die Palme und lachte.
»Wieso lachst du?«
»Ach nichts. An dir werden mal unzählige dicke Kugeln
runterhängen. Wie ein Weihnachtsbaum wirst du aussehen.
Nur hässlicher. Meine Datteln dagegen sind die Früchte von
Königen und …«

»Hat jemand Weihnachtsbaum gesagt?«, fragte eine Fichte
gähnend aus der Ecke.
»Nein. Niemand. Schlaf weiter«, sagte die Palme spitz.
»Ich könnte schwören, jemand hat gerade Weihnachtsbaum
gesagt«, erwiderte die Fichte.

»Na toll, jetzt ist sie wach«, flüsterte die Palme.

»Oho. Viele neue Nachbarn sehe ich. Wie geht es euch?«,
fragte die Fichte und wendete sich an die anderen Bäume.
Die Bäume redeten alle durcheinander und sprachen
darüber, was sie einmal werden würden und hatten tausend
Fragen an die Fichte, die wohl schon seit Bäumegedenken
dort drüben in der Ecke stand.

Der Apfelbaum erfuhr, dass Äpfel süß sind und Menschen
sie mögen. Da war er stolz und es kümmerte ihn nicht mehr,
was die gemeine Palme von ihm behauptete.

Die Eiche war glücklich, als sie erfuhr, dass die Menschen sie
in Sprichwörtern verwendeten und man Baumhäuser
zwischen ihren Ästen bauen konnte.

Auch die Kastanie konnte ihrem Schicksal etwas
abgewinnen: Im Herbst würden Menschenkinder ihre
Früchte sammeln und lustige Figuren daraus basteln. Und
die Früchte ihrer Verwandten konnte man sogar essen.

Nur was den kleinen Baum anging, schwieg die Fichte.

Viele Tage vergingen – so nannte man das, wenn es erst hell
und dann wieder dunkel wurde. Und manchmal wurde
einer der Bäume von den Menschen in der Schubkarre
weggebracht.

»Wachsen musst du, Kleiner. Sonst bin ich bald wirklich so
groß, dass du kein Licht mehr bekommst«, sagte die Palme
an einem besonders sonnigen Morgen zum kleinen Baum.

»Vielleicht wachse ich nicht, weil ich nicht weiß, wer ich
bin?«

»Unsinn. Man muss nicht wissen, wer man ist, um zu
wachsen«, mischte sich die Eiche ein. »Ich wusste auch nicht,
wer ich bin, bis die Fichte es mir sagte. Und schon damals
war ich dreimal so groß wie du.«
»Heute bestimmt fünfmal. Wie machst du das nur?«, fragte
der kleine Baum.
»Einfach so. Das kannst du auch. Du musst nur mehr an dich
glauben«, sagte die Eiche.

»Vielleicht ist er krank«, warf die Palme ein. »Sieh nur, wie
die Menschen das Gesicht verziehen, wenn sie an ihm
vorbeilaufen.«

Das war dem kleinen Baum tatsächlich aufgefallen. Die
Menschen musterten die Bäume immer auf die gleiche Art:
Sie spazierten entlang, blieben ab und zu stehen, sahen von
oben nach unten und bewegten dann meist den Kopf.
Mal nickend, mal schüttelnd und ab und zu schräg.
Aber immer, wenn sie zu ihm kamen, schnitten sie die
wildesten Grimassen.

Der kleine Baum war traurig. Noch schlimmer wurde es, als
die Bäume, an die er sich gewöhnt hatte, nach und nach
mitgenommen wurden. Sogar die Palme wurde eines Tages
von einer riesigen Schubkarre abgeholt und jubelte den
ganzen Weg hinaus, als hätte sie es selbst nicht mehr
erwartet.

Viele Male kamen neue Bäume hinzu und gingen bald
darauf wieder, während der kleine Baum nur zusah und
immer weniger reden wollte. Es waren sowieso immer die
gleichen Themen, die die Bäume beschäftigten.

Eines Tages kam ein alter Mann vorbei.
Er trug eine Brille mit dünnem, goldenem Rahmen und er
lief wie jemand, der alle Zeit der Welt hatte. Er kam an dem
kleinen Baum vorbei, sah ihn an und kam einen Schritt
näher. Er bog mit den Fingern ein paar Äste hin und her,
drehte den Baum einmal um, betrachtete ihn von der
anderen Seite und lächelte.

Der kleine Baum war voller Freude, als er sah, dass der alte
Mann sich mit dem Besitzer der Schubkarre unterhielt. Doch
statt dass beide herkamen, um ihn mitzunehmen, blieben sie
dort stehen und diskutierten endlos. Endlos. Dem kleinen
Baum wurde ganz schlecht, weil er nicht wusste, worum es
ging.

Er hielt es kaum aus und wünschte sich so sehr, dass sie
endlich zu ihm rüberlaufen würden. Doch schließlich sah er,
wie der alte Mann den Kopf schüttelte, den kleinen Baum
noch einmal aus der Ferne ansah und dann ohne ihn ging.
Tränen kamen dem kleinen Baum und er fühlte sich
verlassen, obwohl er noch nie zu jemandem gehört hatte.
Der Tag war fast vorbei, die Sonne schon dabei zu
verschwinden und dem kleinen Baum wäre es am liebsten
gewesen, wenn es überhaupt nie wieder hell werden würde.

Doch dann sah er auf einmal den alten Mann wieder!
Diesmal lief er aber nicht gelassen wie vorhin, sondern
stampfte förmlich auf den kleinen Baum zu. Er hob ihn auf,
hielt kurz inne und lief dann mit ihm in einen großen Raum,
den der kleine Baum noch nie zuvor gesehen hatte.

»Das ist Wucher! Das wissen Sie. Seit sechs Jahren komme
ich hierher und bekomme meinen Seniorenrabatt«, sagte der
Mann mit der Brille.

»Auf diesen nicht. So einen finden Sie kein zweites Mal. Der
ist jeden Cent wert«, antwortete der Mann mit der
Schubkarre.

Der Mann mit der Brille gab sich nachdenklich und holte tief
Luft, als wolle er etwas ganz besonders Wichtiges sagen.
Doch dann fiel sein Blick wieder auf den kleinen Baum und
er entschied sich dagegen. Er grummelte etwas in sich
hinein, zog mehrere bunte Zettel aus seiner Brusttasche und
legte sie auf den Tresen. Dafür bekam er ein paar klimpernde
Metallstücke zurück, packte sie ein und verabschiedete sich
mit einem knappen »Wiedersehen«.

Dann nahm der alte Mann den kleinen Baum mit und fuhr
mit ihm in einer überdachten Schubkarre zu einem neuen
Raum mit vielen Dingen, die er noch nie zuvor gesehen
hatte. Dieser Raum führte in einen zweiten Raum. Und da
dachte der kleine Baum zuerst, er würde träumen. Dort
waren bestimmt zehn – nein zwanzig, vielleicht noch mehr! –
kleine Bäume.

Der alte Mann stellte ihn ab und verließ den Raum, da
begrüßte ihn schon einer der Bäume sehr herzlich.

»Ihr seid ja auch alle so klein wie ich!«, rief der Baum.

»Natürlich. Alle Bonsai-Bäume sind so klein«, sagte der, der
ihn zuerst begrüßt hatte.

»Bonsai-Bäume? Bin ich auch ein Bonsai-Baum?«, fragte er.

»Ja. Ziemlich sicher. Und ein recht schöner noch dazu. Wenn
ich das so sagen darf.«

Da freute sich der Baum, der – wenn man genau hinsah –
immer noch etwas kleiner war als die anderen. Das sah auch
er, aber er entschied sich, das für heute einfach zu vergessen
und die gute Gesellschaft zu genießen.


Anmerkung: Der Druck dieser Geschichte ist drei Jahre her. Mein Schreibstil hat sich seither verändert. Zusätzlich habe ich neues Wissen über Storytelling gewonnen, aus Büchern wie Building a Storybrand (Donald Miller) und Story Genius (Lisa Cron).

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